Édouard Louis und Ken Loach: Kunst soll alles können

Édouard Louis und Ken Loach sprechen über »Kunst und Politik«

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 5 Min.
Es lebe die Gemeinschaft! Auch wenn es wehtut, feiert sie Ken Loach in seinen Filmen, wie hier in »Sweet Sixteen« (2002).
Es lebe die Gemeinschaft! Auch wenn es wehtut, feiert sie Ken Loach in seinen Filmen, wie hier in »Sweet Sixteen« (2002).

Wie lässt sich eine radikale politische Haltung in eine ebenso radikale Kunst transformieren? Darüber diskutieren mit Édouard Louis und Ken Loach zwei explizit sozialkritische Künstler der Gegenwart auf 80 Seiten in einem »Gespräch über Kunst und Politik«.

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Der junge Louis und der alte Loach, das scheint für sich genommen eine spannende Konstellation zu sein: Denn beide Künstler vereint mindestens genauso viel, wie sie trennt. Der eine, Louis, (Jahrgang 1992) ist einer der literarischen Shootingstars Europas der vergangenen zehn Jahre, der in seinen stets autobiographisch geprägten Büchern wie »Das Ende von Eddy« oder jüngst »Anleitung ein anderer zu werden« Phänomene wie die prekären Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, Homophobie und Rassismus gleichermaßen zu geißeln weiß und damit allen Versuchen, die eine Ungleichheit gegen die andere auszuspielen, eine Absage erteilt.

Der andere, Loach (Jahrgang 1936), verfolgt für sich genommen einen ähnlichen künstlerischen Ansatz: Denn wie sein französischer Kollege interessiert sich auch der britische Regisseur für die Deklassierten und Abgehängten der neoliberalen Gegenwart, die er in Filmen wie »Raining Stones«, »Sweet Sixteen«, »Ich, Daniel Blake« oder zuletzt »Sorry We Missed You« regelmäßig zu stillen Helden stilisiert. Zugleich hat er qua generationaler Differenz – Loach ist immerhin gut 55 Jahre älter als Louis – einen anderen Blickwinkel, etwa wenn es um Fragen geht, die gemeinhin gern unter dem Terminus »Identitätspolitik« gefasst werden.

Doch sowohl Loach als auch Louis verstehen ihre Werke als dezidiert politisch und fallen zugleich als überzeugte Linke immer wieder mit politischen Äußerungen auf, die in der allgemeinen medialen Öffentlichkeit nicht immer mit Wohlwollen wahrgenommen werden. Etwa zuletzt, als Loach sich im Jahr 2021 als überzeugter Anhänger Jeremy Corbyns gegen die neue Labour-Führung stellte und kurz darauf wegen seiner Nähe zu als antisemitisch eingestuften Ex-Parteimitgliedern schließlich selbst ausgeschlossen wurde. Louis wiederum musste sich in der Vergangenheit wiederholt öffentlicher Kritik stellen, nachdem er seine Sympathien für die Gelbwesten-Proteste in Frankreich bekundet hatte, denen mitunter eine fehlende Distanz zu Rechten vorgeworfen wurde.

In dem neuen Gesprächsband treten die beiden Protagonisten nun miteinander in Dialog, um das Verhältnis von Kunst und Politik zu debattieren. Allzu sehr werden die verschiedenen Diskussionsstränge dabei allerdings nicht vertieft, denn das Buch ist nicht besonders dick. Schon zu Beginn erfährt man als Leser von der gegenseitigen Wertschätzung der Künstler, sodass sie in der Folge in Bezug auf aufgeworfene Fragen oder Ideen zumeist zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen – etwa, wenn es um ihre geteilte Einschätzung geht, dass das Gros der reformlinken Parteien über alle Ländergrenzen hinweg im Zuge der New-Economy-Phase den Bezug zur Arbeiterklasse verloren habe, woraus sie wiederum die gegenwärtige Stärke des globalen Rechtsradikalismus ableiten. Zugleich ist das hohe Maß an betonter Einigkeit streckenweise ermüdend, denn gerade Loach neigt stark dazu, seinem Gegenüber stets beizupflichten (»Ich finde es sehr gut beobachtet«, »Absolut!«, »Ich bin so froh, das zu hören«).

Louis bemüht sich dagegen stärker, durch Kontrastierungen und Widerspruch zugleich Differenzen aufzuzeigen, die mitunter Erhellendes zutage fördern: etwa, nachdem Loach ein vergleichsweise undifferenziertes Loblied auf »die Gemeinschaft« als solche hält, die ihm zufolge einen Ausweg aus dem neoliberal-egoistischen Individualismus der Gegenwart bereithalten könne. Louis insistiert zurecht, dass es dabei immer auch darauf ankomme zu schauen, um was für eine Form der Gemeinschaft es sich im Konkreten handle, woraufhin er seine traumatisierende Erfahrung als schwuler Jugendlicher in einem prekarisierten, von männlicher Härte und Gewalt geprägten Milieu in einer französischen Kleinstadt anführt. Diese habe für ihn viele Jahre keinen Ausweg geboten, sodass er zu dem Schluss kommt: »Dem Schulkind, das ich war, wäre es in diesem Arbeitermilieu sehr viel lieber gewesen, wenn die Gemeinschaft weniger präsent gewesen wäre.«

Einigkeit herrscht bei den beiden Diskutanten darüber, dass man Kunst nicht mit einem Imperativ begegnen darf (»Kunst muss…«), denn – so schlussfolgert Loach trefflich – dadurch »töten Sie die Kreativität ab«: »Kunst [muss] alles sein können, was sie will.« Zugleich weist Louis darauf hin, dass Kunst entgegen der heute so üblichen Verlautbarungen nicht ein Wert für sich sei, sondern man ihr vielmehr mit grundsätzlicher Skepsis begegnen solle. Denn allzu oft – so führt er unter Verweis auf Bourdieus Distinktionstheorie der »feinen Unterschiede« aus – werde Kunst als ein Instrument der Mächtigen missbraucht, um mittels der Anhäufung sozialen Kapitals die eigenen Privilegien zu verteidigen.

Deshalb gehe es darum, Strukturen zu erschaffen, in denen jene, die zum Schweigen gebracht werden sollen, ermutigt würden, eine eigene Sprache zu finden. Literaturhistorisch nimmt er dabei etwa Bezug auf Toni Morrison und Émile Zola, die als eine der ersten überhaupt über das Leid der Schwarzen (Morrison) beziehungsweise der Armen (Zola) schrieben, wodurch sie ein hohes Maß an Gegenwehr hätten ertragen müssen.

Auf die beiden Kapitel »Arbeit und Gewalt« und »Politik und Transformation« folgen jeweils zwei kurze Interviews, deren Fragesteller seltsamerweise nicht vorgestellt werden. Zugleich irritieren die Interviews inhaltlich mehr, als dass sie erhellen, etwa mit folgender, reichlich öder und zugleich völlig entkontextualisierter Frage von Louis: »Ich habe mehr als sieben Jahre mit Obdachlosen gearbeitet und möchte gern wissen, wie Sie die Situation der Obdachlosen in England sehen, einem der reichsten Länder der Welt. Kümmern sich die Regierungen genügend um diese Frage?« Darauf gibt Loach die ebenso wenig originelle Antwort: »Hm, sie kümmern sich eher um den Immobilienmarkt.« Allzu oft bleibt innerhalb des Buches bei derartigen Allgemeinplätzen das Verhältnis von Kunst und Politik auf der Strecke, das zu diskutieren das Buch doch eigentlich vorgibt.

So werden im Buch zwar viele richtige, zugleich aber wenig originelle Feststellungen über die soziale und politische Gegenwart getroffen. Zudem sind leider die Ideen, welche Handlungsoptionen daraus für die Kunst erwachsen könnten, rar gesät. Das Buch zu lesen, tut zwar keinem weh. Im Zweifel sind die herausragenden Werke der beiden Diskutanten diesem Gesprächsband aber vorzuziehen.

Édouard Louis/Ken Loach: Gespräch über Kunst und Politik. A. d. Franz. v. Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 80 S., geb., 17 €.

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